Der Kinderkreuzzug von 1212

1. Res miranda: ein wundersames Ereignis

"Eine wundersame Sache hat sich in diesem Jahr ereignet, in der Tat so sehr wundersam, wie man es noch nie auf der Welt gehört hat"[1]. Der Kinderkreuzzug "gehört zu den Ereignissen, die heute in der Regel mit einer Mischung aus Entsetzen und Ratlosigkeit zur Kenntnis genommen werden"[2]. "Grotesk und entsetzlich zugleich, auch jene Wahnbewegung, die von der akademisch sesshaften Geschichtswissenschaft  "der Kinderkreuzzug" genannt (...) wird"[3].

Nur schon aus diesen drei Anmerkungen zum Kinderkreuzzug - das erste Zitat stammt aus dem Mittelalter, die zwei anderen aus unserer Zeit-, sehen wir, wie emotionsgeladen dieses geschichtliche Ereignis aus dem frühen 13. Jahrhundert wahrgenommen wurde und wird.

Was ist nun eigentlich passiert im Frühjahr 1212? Um die Osterzeit sammelten sich in den Rheinlanden und in Niederlothringen grosse Scharen von pueri. Gleichzeitig entstand eine ähnliche Bewegung in Nordfrankreich. Unter der Führung eines Hirtenjungen namens Stephan sammelte sich eine grosse Menge junger Leute aus der Ile-de-France und zogen in Prozessionen nach St. Denis bei Paris. Dort wurden sie vom französischen König empfangen;  der gebot ihnen, die Bewegung aufzulösen.

Die pueri um Köln bekamen nun immer grösseren Zulauf, nicht nur aus Deutschland sondern auch aus Frankreich. Sie wählten einen gewissen Nikolaus zu ihrem Führer und machten sich Mitte Juli 1212 von den Rheinlanden aus auf den Weg Richtung Jerusalem, um das Heilige Grab zu befreien. Lieder singend und Fahnen tragend zogen die Kreuzfahrer rheinaufwärts und wurden von der Bevölkerung begeistert empfangen und unterstützt. Die Alpen überquerten sie vermutlich über den Brenner und bereits am 25. August kamen an die 7000 Pilger über Piacenza in Genua an. Dort fand das vom Anführer versprochene Wunder, dass sich das Meer wie einst beim Auszug der Israeliten teilte, nicht statt. Die Stadt war auch nicht bereit, Schiffe für eine Überfahrt ins Heilige Land zur Verfügung zu stellen. Der Zug scheint sich nun schon bald aufgelöst zu haben. Einige Teilnehmer sollen nach Pisa, Rom, Rimini oder Ancona weitergezogen sein, andere nach Marseille. Ein kleiner Rest schliesslich scheint noch im gleichen Jahr den Rückzug über die Alpen angetreten zu haben, zurück in die Heimat, wo sie mit Spott empfangen wurden.

Soweit die kurze ereignisgeschichtliche Darstellung, wie sie aus den rund fünfzig Textquellen[4] rekonstruiert werden kann.

1.1 Peregrinatio puerorum: eine Begriffsbestimmung

Wenn man auf die heute immer noch gebräuchlichen Begriffe Kinderkreuzzug, Children's Crusade, Croisade des enfants, Crociata dei fanciulli oder gar Crociata dei bambini hört, so wird einem bewusst wie schon im Begriff selber eine emotionale Aufladung steckt: Kleine Kinder auf dem beschwerlichen Weg Richtung Palästina, Kinder auf der Wanderung über die unwegsamen Alpen,  Kinder, die an Sklavenhändler verkauft werden. Bilder wie wir sie aus der heutigen Zeit kennen: Kindersoldaten in Afrika, Bilder von Kindsmissbrauch, von Ausbeutung und Unterdrückung. Dabei wird heute die Bezeichnung "Kinderkreuzzug" von der neueren Forschung durchwegs als irreführend bezeichnet[5].

Wir haben also zwei Begriffe zu klären: Kreuzzug und Kind.

1.1.1 Peregrinatio: der Kreuzzug

Der Begriff Kreuzzug war im 13. Jahrhundert noch nicht gebräuchlich. Die im Zusammenhang mit den Ereignissen von 1212 verwendeten  Begriffe  "peregrinatio", "iter" oder "expeditio"  waren jedoch die üblichen Bezeichnungen für "Kreuzzug", vor allem auch wenn sie im Zusammenhang mit "cruce signati", Jerusalem oder Heiliges Land verwendet wurden. Nach der Ansicht von Gäbler[6], sollte man den Kinderkreuzzug aber eher als Jerusalemwallfahrt bezeichnen, da die Teilnehmer nicht vom Papst aufgerufen waren, keine Waffen, jedoch die typischen Pilgermerkmale (Pilgerstab und  Pilgertasche)[7] trugen. Tatsächlich gilt der Begriff "peregrinus" sowohl für Pilger wie für Kreuzfahrer. Wenn aber ein Zug so stark die Befreiung Jerusalems als Motiv angibt und die Teilnehmer nebst den Pilgermerkmalen auch das Kreuzzeichen[8] auf sich tragen, so ist es wohl berechtigt, sie als Kreuzfahrer zu bezeichnen[9]. Selbst wenn die pueri auch nicht vom Papst zur Kreuzfahrt aufgerufen wurden, so ist ihr Zug auch nie vom Papst Innozenz III verboten oder verurteilt worden[10]. Die Bezeichnung "Kreuzzug" für den Zug von 1212 darf also als richtig angenommen werden.

1.1.2 Puer: das Kind

Während beim Wort "Kreuzzug"  die Begriffsbestimmung einfach und heute auch mehrheitlich unbestritten ist, so verhält es sich beim Begriff  "Kinder" ungleich komplizierter. Von der Deutung  dieses Begriffes hängt wesentlich die Interpretation des Kinderkreuzzuges ab. Wie schon oben erwähnt, wird der Begriff in der heutigen Forschung eher als unzutreffend angeschaut[11].

Der Kernpunkt ist also die Übersetzung des lateinischen Wortes puer. Dieses Wort als Bezeichnung der Teilnehmer erscheint in fast allen frühen Quellen und setzt sich später ganz durch[12].

Schon im Lateinisch-Deutschem Wörterbuch finden wir mehrere Wortdeutungen: 1) Kind (im Gegensatz zum Erwachsenen); 2) Knabe (meist vom 7. bis 16. Altersjahre, bis zur Mündigkeit); 2a) Sohn; 2b) Jüngling, junger Mann, Junggeselle und 2c) Diener, Bursche, Sklave, Knecht.

Eine weitere Definition für puer liegt in der mittelalterlichen Einteilung der Lebensalter: infantia bis sieben Jahre, pueritia bis 14 Jahre und  iuventus bis 28 Jahre. Oft wurde jedoch die Bezeichnung iuventus  weggelassen und entsprechend die pueritas ausgedehnt. Als Knabe galt man dann bis man sich verheiratete[13].

In den früheren Forschungsarbeiten wurden die Teilnehmer immer als Kinder bezeichnet; so etwa in der ersten umfassenden Darstellung des Kinderkreuzzuges vom Pionier der deutschen Kreuzzugsforschung Reinhold Röhricht aus dem Jahre 1876[14]. Es wird da von Kinder gesprochen, die kaum zwölf Jahre alt sind. Es tauchen diese Bilder von kleinen Kindern auf, die verführt durch religiöse Scharlatane sich barfuss über die Alpen quälen, die am Wegrand verhungernd liegen bleiben oder als Sklaven im Orient landen. Mit genau solchen Bildern wird bis heute in volkstümlichen Darstellungen der Kinderkreuzzug geschildert.

Alphandery gibt in seiner Arbeit von 1959 dem Begriff pueri eine mehr übertragene Bedeutung im Sinne von den "unschuldigen Kindern", deren Fest am 28. Dezember in der Kirche gefeiert wird[15]. Aus dieser Deutung heraus sieht er einen der Hauptbegründungen des Kinderkreuzzuges.

In der späteren Forschung ist dann der Begriff puer in der Bedeutung "Kind" relativiert und angezweifelt worden. So hat als einer der ersten Miccoli in seiner Arbeit von  1961[16] darauf hingewiesen,  dass unter pueri Männer und Frauen verschieden Alters gemeint sind. Gräbler zweifelt in seiner Antrittsrede als Privatdozent an der Universität Zürich 1974 nicht nur den Ausdruck "Kreuzzug" an, sondern auch den Begriff  "Kind", den er eher in der Bedeutung "Jugendlicher" sieht[17].

1.1.3 Puer: der Knecht

Eine völlige Umdeutung des Begriffs puer nimmt Raedts in seiner Untersuchung von 1977 vor[18]. Für ihn stellt sich nicht in erster Linie die Frage nach dem biologischen Alter sondern nach der sozialen Herkunft der Kreuzzugsteilnehmer.

Gestützt auf die Quellen stellt er fest, dass Teilnehmer im Sinne von Minderjährigen nur in zwei zeitgenössischen Quellen[19] erwähnt sind, dass aber oft der Begriff pueri mit Altersangaben (in der Art: von 6 bis 60) versehen ist, so etwa in den Kölner Chroniken[20], ja dass es sogar verheiratete "Kinder" gibt[21]. Einen  weiteren Hinweis, dass die pueri nicht Kinder sein konnten, sieht Raedts im Umstand, dass einige Teilnehmer nach Rom gingen um eine Auflösung des Kreuzzugsversprechens zu erwirken; nach kanonischem Recht war man zu der Zeit jedoch erst ab dem 14. bzw. 12. Jahr an einen Eid gebunden.

Wenn jetzt Raedts nachgewiesen hat, dass die Teilnehmer nicht Kinder sind, so bedeutet der belegte Satz, dass viele gegen den Willen der Eltern am Kreuzzug teilnahmen[22] nicht, dass die puer minderjährig waren, sondern eher, dass diese jüngeren Bauernsöhne ohne Erlaubnis die Mitarbeit auf dem elterlichen Hofe  abbrachen. "Knabe" ist also eher eine Beschreibung der sozialen Situation als eine Altersbezeichnung. Raedts stützt sich in seiner Begründung auf Duby[23], der die pueri oder  pastores als Opfer der ökonomischen Revolution des Hochmittelalters sieht[24]. Durch die Einführung des paternalen Erbrechtes ist ein neues ländliches Proletariat entstanden, bestehend aus den jüngeren Söhnen, eben den pueri, welche keinen Besitz hatten, nicht erbberechtigt waren und deshalb auch nicht heiraten konnten. Diese neuen Armen, welche daheim auf dem Hof als Knecht oder Hirte arbeiten mussten, wurden oft zu Randständigen. Diese pueri waren es, welche Pflug und Herden verliessen[25] und sich mit Begeisterung der Kreuzzugsbewegung anschlossen und ihr sogar den Namen gaben.

Die Untersuchung von Raedts scheint wegweisend  gewesen zu sein. Seine Interpretation wird in den folgenden Untersuchungen jeweils aufgenommen und  oft auch relativiert. Roeder (1993) und Cardini (1999) wollen sich nicht so einseitig festlegen und betonen auch wieder mehr die Bedeutung von "Kind" und "Jugendlicher" für den Begriff puer[26]. Menzel meint in seiner Untersuchung von 1999, dass die Umdeutung des Begriffes puer von Kind zu unverheiratetem Hirten in den Quellen unbelegbar und falsch sei und dass man unbedingt an der Bezeichnung "Kinderkreuzzug" festhalten solle[27].

Einer der heute wohl gewichtigsten Forscher der Kinderkreuzzugbewegung, Gary Dickson, übernimmt in seinen Arbeiten von 1992 und 1995 weitgehend die Interpretation Raedts von pueri als Bezeichnung für eine Gruppe jüngerer, besitzloser und unverheirateter landwirtschaftlicher Arbeiter und nie als Bezeichnung für kleine Kinder und meint, dass diese Interpretation ohne Mühe belegt werden könne ("can easily be documented")[28].

1.2 Forschungsstand und offene Fragen

Da die Begriffsbestimmung für puer und peregrinatio eine so wesentliche Angelegenheit für die Forschung ist, haben wir in diesem Zusammenhang die wichtigsten Forscher und deren Arbeiten zum Thema Kinderkreuzzug kennen gelernt und gleichzeitig auch den Stand der heutigen Forschung aufgezeigt. Auffallend ist, dass neben den aktuellen Arbeiten der letzten 10 Jahren (Roeder, Menzel, Cardini und Dickson) den Untersuchungen von Raedts und auch Miccoli noch immer ein grosses Gewicht beigemessen wird, während andere Arbeiten eher überholt erscheinen[29].

Drei Hauptthemen und Fragenbereiche werden in den neueren Arbeiten immer wieder angesprochen und zu beantworten versucht:

1. Wer waren die Teilnehmer des Kreuzzuges von 1212 und woher stammten sie? 

2. Was waren die Beweggründe und Motive für die Teilnahme am Kreuzzug?

3. Wie kann der Kreuzzug und dessen Ausgang anhand der Quellen rekonstruiert werden?

1.3 Fecerunt pueri processiones: die Quellen

Für die Interpretation des Kinderkreuzzuges kommen eigentlich nur Quellen aus dem 13. Jahrhundert in Frage, das sind in erster Linie Annalen und Chroniken. Vorauszuschicken ist, dass kein einziger Bericht eines Teilnehmers existiert. Zum Teil bestehen die Quellen aus ganz kurzen Einträge wie "die pueri machten Walfahrten"[30], oft beinhalten sie aber ganze Erzählungen, wie die zwei Beispiele im Anhang zeigen (Marbacher Annalen und Chronik des Alberic von Troisfontaines).

Die Quellen können zeitlich in drei Gruppen eingeteilt werden[31]: die streng zeitgenössischen Quellen, geschrieben bis 1220; dann die Aufzeichnungen zwischen 1220 und 1250, wo die Chronisten noch persönliche Kenntnisse hatten, aber ihre Erfahrungen erst später aufschrieben und schliesslich die Quellen, die nach 1250 geschrieben, wo die Autoren ihr Informationen nur aus zweiter oder dritter Hand erhielten.

1.3.1 Die Quellen und ihre Entstehungszeit

1.) Die Beurteilung der zeitgenössischen Quellen ist unproblematisch. Sie sind eher neutral gehalten und geben gute Anhaltspunkte zur Rekonstruktion des Weges des Kreuzzuges. Als Ausgangspunkt des Kreuzzuges werden die Rheinlande angeschaut, festgehalten in den beiden Kölner[32] Chroniken. Von da weg geht’s südlich an den schwäbischen Klöstern Ellwangen, Neresheim und Zwiefalten[33] vorbei über Schäftlarn an der Isar (nähe München)[34] Richtung Österreich. In Österreich ist der Kreuzzug in zwei zeitgenössischen Chroniken erwähnt: in den Annalen von Admont und Salzburg[35]. Der weitere Weg führt wahrscheinlich über den Brenner nach Cremona[36]. In den Annalen von Piacenza[37] ist das Eintreffen des Zuges am 20. August vermerkt. Laut der Stadtchronik Ogerius Panis treffen die Kreuzfahrer am 25. August in Genua[38] ein. Zeitgenössische Vermerke gibt es ebenfalls in Parma und Reggio nell' Emillia [39].

Aus Belgien gibt es zwei zeitgenössische Quellen in den Klöstern von Lüttich und Floreffe[40], aus Nordfrankreich in den Klöstern von Rouen, Mortemer und Laon[41], wobei die Chronik aus Laon als die wichtigste Quelle für den französischen Zug gilt.

2.) Die Quellen aus der Periode zwischen 1220 und 1250 sind weniger einfach zu deuten, sie nehmen jedoch einen wichtigen Platz in der Beurteilung des Kinderkreuzzuges ein. Die Chronik von Trier scheint sich auf einen Augenzeugen zu berufen. Die Marbacher Annalen und die Chronik Alberic's von Troisfontaines[42]  berichten recht ausführlich über die Ereignisse von 1212, beide geben detaillierte Auskunft. Die Marbacher Annalen zeichnen sich aber durch eine gewisse Einseitigkeit aus und sind der Bewegung gegenüber eher ablehnend bis feindlich eingestellt. Die Chronik von Alberic ist so sehr erzählerisch angelegt, dass sie manchmal fast märchenhaft klingt; der Wahrheitsgehalt dieser Quelle wird aus verschiedenen Gründen von etlichen Forschern angezweifelt.

3.) Von den Quellen aus dem Zeitraum nach 1250 sind einzig die Annalen von Speyer und Ebersheim[43] unbestritten. Durch diese beiden Orte führte der Kinderkreuzzug. In den Annalen von Speyer, welche vermutlich auf eine ältere Quelle zurückgeht, wird sogar das genau Durchzugsdatum erwähnt: der 25. Juli 1212. Viele der übrigen Quellen aus dem Elsass und aus Deutschland umfassen nur wenige Zeilen. Andere Quellen aus dieser Zeit sind entweder örtlich, zeitlich oder inhaltlich zu weit von den Ereignissen entfernt, um hier beigezogen zu werden.

1.3.2 Die relevanten Quellen

Laut Raedts bleiben von den etwa fünfzig Quellen des Kinderkreuzzuges nur noch zwanzig relevant für die aktuelle Beurteilung des Kinderkreuzzuges[44]. Gäbler beurteilt die Quellenlage als noch viel dürftiger[45]. Von den deutschen Quellen lässt er eigentlich nur eine als  einigermassen zuverlässig gelten; nämlich diejenige aus Speyer (obwohl diese auch nicht zeitgenössisch ist), dazu noch die vier glaubwürdigen Quellen aus Italien. Den andern spricht er die Historizität ab, da sie mehr in den Bereich der Geschichtsdeutung als der Geschichtserzählung gehören.

1.3.3 Die Quellen zeigen den Weg

 

 

Die Route ist nur einigermassen zwischen Köln und Genua belegt. Die eingezeichneten Orte beziehen sich auf die hauptsächlichsten Quellen mit der Entstehungszeit bis 1250.  Die Orte Vendôme, St.Denis, Brenner, Marseille und Rom sind nicht Quellenorte[46].

 

Wenn wir der geografischen Streuung der Quellen in Deutschland, Elsass, Österreich und Italien nachgehen, können wir gleichzeitig den ungefähren Verlauf  des "deutschen" Kreuzzuges nachvollziehen: Köln, Elsass, Schwabenland, Brenner, Lombardei, Genua.

Umgekehrt weisst das Fehlen von Quellen daraufhin, wo der Kreuzzug höchstwahrscheinlich nicht durchging. Wenn also gewisse Quellen - etwa Alberic von Troisfontaines - angeben, dass der "französische" Kreuzzug von der Ile-de-France aus sich Richtung Marseille bewegte, ist das eher unwahrscheinlich, denn südlich der Loire wurde kein einziger Quelleneintrag gefunden.

1.3.3 Die Quellen und ihre Autoren

Nebst der zeitlichen und  geografischen Einteilung der Quellen drängt sich auch noch eine Einteilung nach der Herkunft der Autoren auf. Menzel hat nach diesem Gesichtspunkt die Quellen untersucht. Er hat festgestellt, dass im allgemeinen Angehörige der  konservativen Orden (Benediktiner und Augustiner) und Autoren aus dem bischöflichen Umfeld sich eher ablehnend zum Kreuzzug äusserten, während Autoren aus den reformorientierten Orden (Prämonstratenser, Zisterzienser) und aus den Bettelorden (Franziskaner, Dominikaner) eher positiv eingestellt waren[47]. Um die vielen offenen Fragen zu beantworten, genügt es also nicht, die vorhandenen Quellen zu befragen, gleichzeitig müssen diese Quellen auch kritisch hinterfragt werden.

2. Iter stultorum puerorum: die Fragen

2.1 Pueri oder Infantes: die Teilnehmer

Wenn neuere Untersuchungen festgestellt haben, dass mit der Bezeichnung pueri nicht einfach Kinder gemeint sind, so will das nicht heissen, dass keine Kinder am Kinderkreuzzug teilgenommen haben. Unter den relevanten zeitgenössischen Quellen gibt es drei, in welchem puer überhaupt nicht vorkommt. Die eine ist die Chronik Willhelms von Andres, die allerdings ziemlich weit vom Geschehen entfernt entstanden ist[48]; er spricht von einer peregrinatio infantium. Auch in der gewichtigen Niederschrift von Alberic[49] werden als Teilnehmer ausschliesslich infantes aufgeführt (begleitet noch von einigen Priestern); diese Quelle gilt jedoch auch aus anderen Gründen als nicht sehr glaubwürdig . Die dritte Quelle[50] spricht überhaupt nur von Männer und Frauen jedes Alters. In allen anderen Quellen wird immer von pueri gesprochen; diese "Knaben" werden dann oft noch genauer beschrieben und sind meistens von anderen Teilnehmern begleitet.

2.1.1 Utriusque sexus et etatis: Alter und Geschlecht:

Vom Säugling bis zum Greis kommen in den Quellen fast alle Altersgruppen beider Geschlechter vor. In den Marbacher Annalen gibst es pueri und puelle, nicht nur minderjährige sondern auch erwachsene und verheiratete, dazu noch stulti homines, dumme Männer[51]. In den Kölner Chroniken  ist nebst den pueri[52] verschiedenen Alters auch von Jugendlichen und Frauen (multitudo juvenum et mulierum)  die Rede, unter die sich auch einige schlechtgesinnte Menschen (maligni homines) gemischt haben. In den Annalen von Rouen gibt es nebst pueri und puelle Heranwachsende und Greise (adolescentes et senibus)[53]. Weiter gibt es auch Knechte, Mägde und Jungfrauen[54], aber auch Hirten und Hirtinnen[55]. 

Wir sehen, eine grosse Menge verschiedenster, vorwiegend jugendlicher Leute, pueri, hat sich auf den Weg Richtung Süden gemacht.

Wer ist schliesslich in Italien angekommen? Laut den Annalen von Piacenza ist im August 1212 der Kreuzfahrer Nicolaus aufgetaucht, zusammen mit einer unendlichen Menge von deutschen "Knaben", Säuglingen, Frauen und Mädchen, alle mit dem Kreuz gezeichnet, um Richtung Meer weiterzuziehen und anschliessend das Grab Christi von den Sarazenen zu befreien.

"Die autem Martis proximo, XIII. Kal. Septembris quidam puer Theothnicus signo crucis signatus, qui vocabatur Nicholaus, cum magna et indefinita multitudine Theothonicorum puerorum et infantium lactantium , mulierum et puellarum, signo crucis Domini signatorum, per Placentiam transitum fecerunt, ultra mare proficisci festinantes. Dicebant enim, quod ipsi puero per angelum nuntiatum erat, quod ipse et eius sequaces sepulcrum Domini de manibus et virtute iniquorum ac pessimorum Saracenorum recuperare debent" [56].

2.1.2 Ex omni Francia et Theutonica: geografische Herkunft

Die Teilnehmer des deutschen Zuges stammen mehrheitlich aus dem Kölner Raum und aus Niederlothringen, die Teilnehmer des französischen Zuges hauptsächlich aus der Ile-de-France und aus Nordfrankreich. Im deutschen  Zug scheinen sich auch etliche Franzosen aufgehalten zu haben; so berichtet die Kölner Chronik von ex omni Francia et Theutonica pueri[57], Renier von Lüttich beschreibt die Herkunft de Romano quam Teutonico regno[58] und auch in Chronik von Ebersheim[59] und in den Annalen von Marbach wird Frankreich und Deutschland als Herkunftsland erwähnt.

So sind wir bei einer weiteren Frage angelangt: Gibt es überhaupt eine Verbindung zwischen dem französischen und dem deutschen Zug? Wie bereits erwähnt, scheint es eher unwahrscheinlich, dass der französische Zug von Paris aus nach Marseille gelangt ist. Obwohl Alberic in seinem Bericht sehr detailliert von einem solchen Zug schreibt und sogar Augenzeugen anführt, welche nach 18 Jahren aus der muslimischen Gefangenschaft zurückgekehrt sein sollen[60], wird dessen Aussage als unrealistisch angesehen, da keine einzige Quelle südlich der Loire gefunden wurde, die auf diesen Zug hinweist.

Laut Dickson[61] gibt es drei Hypothesen über den Zusammenhang des französischen und deutschen Zuges. Die erste besagt, dass der Kinderkreuzzug in der Ile-de-France seinen Ursprung hatte und anschliessend über Köln nach Italien führte. Nach der zweiten Hypothese entstand der Kreuzzug in den Rheinlanden und an der Grenze zu Lothringen und von da breitete sich die Bewegung westwärts aus. Eine dritte Hypothese glaubt, dass spontan  gleichzeitig an verschiedenen Orten ähnliche Bewegungen entstanden sind. Zurzeit scheint sich die zweite Hypothese -Ursprung in den Rheinlanden und in Niederlothringen- in der Geschichtsschreibung durchgesetzt zu haben [62].

2.1.3 Tantum de plebe: soziale Herkunft

Wichtiger als die Frage nach der geografischen Herkunft ist die  Frage nach der sozialen Stellung der Kreuzzugsteilnehmer und im speziellen der pueri. In den französischen Quellen werden die Teilnehmer und ihr Anführer Stefan als pastores, Hirten bezeichnet. In den deutschen Quellen taucht der Begriff "Hirte" nur einmal auf[63], dafür aber immer der Begriff puer, der, wie bereits oben angeführt, durchaus eine ähnliche Bedeutung hat.

Die pueri waren also keineswegs kleine Kinder, sondern laut Raedts, der sich seinerseits auf Duby[64] beruft, eine Gruppe jüngerer Landarbeiter, die man als Agrar-Proletariat bezeichnen kann. Dass solche Gruppen von entwurzelten, landlosen, verarmten, randständigen und heiratsunfähigen Arbeitskräften im dreizehnten Jahrhundert existierten, kann laut Dickson einfach dokumentiert werden[65].

Diese Schicht war nun sehr empfänglich für eine Bewegung, wie der Kinderkreuzzug es war. Sie hatten nichts zu verlieren und konnten durch eine Emigration in neue Länder nur gewinnen. So liessen sie Acker und Pflug (aratra vel currus) liegen und verliessen das Vieh, welches sie am hüten (pecora que pascebant) waren und schlossen sich begeistert der Bewegung an[66].  Die Teilnehmer kamen also vorwiegend vom Lande, eine unendliche Zahl von Knechten, Mägden und Jungfrauen[67], alle vom einfachen Volke tantum de plebe[68] und mit leeren Säcken vacua crumena[69].  Nebst dieser bäuerlichen Schicht haben sich auch noch einige maligni homini, schlechtgesinnte Menschen, Übeltäter unter die Kreuzfahrer gemischt[70], nach dem Bericht Alberics sollen sogar einige Priester am Zug teilgenommen haben. Die grosse Mehrheit der Teilnehmer aber scheint eine unterprivilegierte Schicht der Landjugend ausgemacht zu haben.

2.2 Versus Iherusalem: das Motiv

Was die Volkskreuzzüge gemeinsam auszeichnet - als Volkskreuzzug wird nebst dem Kinderkreuzzug von 1212 auch der Kreuzzug unter der Leitung von Peter dem Eremiten von 1096 und der Hirtenkreuzzug von 1251 unter der Führung vom "Meister von Ungarn" bezeichnet - sind drei wesentliche Punkte: die starke Erwartung Jerusalem zu erreichen, die Unterwerfung unter einen prophetischen Führer und das Gefühl, speziell von Gott auserwählt zu sein[71].

Beim französischen Zug taucht Jerusalem als Ziel weniger auf, bei Alberic heisst es etwa, dass die Kreuzfahrer ultra mare ziehen wollen, was durchaus für Palästina steht. In der deutschen Quellen ist oft die Rede davon, dass das Ziel der Bewegung Jerusalem sei, ebenso in den zeitgenössischen Quellen von Cremona und Piacenza.  Stellvertretend sei hier Reiner von Lüttich zitiert: "Erat autem eorum intentio mare se velle transire, et quod potentes et reges non fecerant, sepulcrum Christi recuperare", ihre Absicht war es, das Meer zu überqueren und das zu erreichen, was den Mächtigen und Königen nicht gelang, nämlich das Heilige Grab zu befreien[72]. Um dieses Ziel zu erreichen, hatten die Massen ihre eigenen Propheten auserwählt. In Frankreich war dies der Hirte Stephan von Cloyes, dem Gott selber in Gestalt eines Armen erschienen war und einen Himmelbrief übergeben hatte. In Deutschland war es Nikolaus, ein Knabe aus der Umgebung von Köln, der ebenfalls auf göttliche Eingebung hin wirkte. Auf Befehl eines Engels ziehe er gegen Jerusalem[73] und er versprach den Teilnehmern das Wunder, dass sie trockenen Fusses über das Meer gehen könnten[74]. Mehrfach ist auch erwähnt, dass die einzelnen Teilnehmer  sich von Gott auserwählt betrachteten ("per divinam inspirationem" Marbacher Annalen), auserwählt, endlich das Grab Christi aus den Händen der Sarazenen zu befreien.

2.3 Nullo hortante nec predicante: die Auslöser

Der Kinderkreuzzug war der erste Kreuzzug, der von niemandem gepredigt wurde, sondern aus eigener Initiative entstand: "Von niemandem ermahnt oder durch Predigt aufgefordert"[75] haben sich da Gruppen von bäuerlichen pueri zusammengeschlossen um das Kreuz zu nehmen und Richtung Heiliges Land aufzubrechen. Niemand konnte sie zurückhalten: weder Eltern und Verwandte noch Freunde. Geistlichen, welche sie aufhalten wollten, wurde Habgier vorgeworfen[76]. In fieberhafter Eile, überzeugt von ihrer Auserwähltheit, zogen sie gegen Süden. Was waren nun die Auslöser für diesen enthusiastischen Zug?

2.3.1 Die Kreuzzugsidee in der Krise

In der Geschichtsschreibung wird oft versucht, einen Zusammenhang mit den zwei anderen, gleichzeitig stattfindenden Kreuzzügen herzustellen, mit dem Kreuzzug gegen die Albigenser, welcher bereits seit 1209 im Gange war und mit dem Kreuzzug gegen die Mauren in Spanien[77].

Tatsächlich wurden im Winter 1211/12 Kreuzzugspredigten zur Unterstützung des Kampfes gegen die Albigenser im Gebiet der Ile-de-France und der Rheinlanden durchgeführt. Freiwillige brachen jedoch schon vor Ostern auf, und von pueri ist in diesem Zusammenhang nicht die Rede. Die Predigten könnten aber durchaus die Stimmung für den Kinderkreuzzug vorbereitet haben.

Auch der iberische Kreuzzug steckte im  Jahr 1212 in einer Krise. Kreuzfahrer wurden nur in Frankreich rekrutiert, in den Rheinlanden kaum. Zusätzlich zu den Kreuzfahrtaufrufen rief Papst Innozenz III zur Unterstützung der spanischen Kreuzzügen zu Bussprozessionen am 23. Mai 1212 auf.

Dass die Kreuzzugsidee in einer Krise steckte, haben die Misserfolge der beiden letzten Kreuzzüge offengelegt. Der dritte Kreuzzug von 1187-1192, an dem sich alles was Namen hatte beteiligte (so die Oberhäupter von Frankreich, England und Deutschland), vermochte Jerusalem nicht zurückzuerobern. Der vierte Kreuzzug (1198-1204) schliesslich endete in einem völligen Fiasko; anstatt das Kriegsziel Ägypten zu erreichen,  eroberten die Kreuzfahrer Konstantinopel und zerstörten das christliche Byzantinische Reich. Was all die Mächtigen nicht schafften, quod potentes et reges non fecerant[78], dass wollten nun die pueri bewerkstelligen.  

2.3.2 Freiwillige Armut

Schon im ausgehenden zwölften Jahrhundert hatte eine Kreuzzugskritik eingesetzt. Nach dem Misserfolg des dritten Kreuzzuges erklärte Peter von Blois in seinem Werk De peregrinatione Hierosolymitana acceleranda das Scheitern damit, dass die Teilnehmer zu wenig tugendhaft gewesen seien. Nur von den Armen könne die Befreiung Jerusalems erwartet werden[79]. Diese Meinung nahm nun auch der populäre Prediger Fulko von Neuilly auf. Fulko war ein sehr erfolgreicher Kreuzzugprediger, der vom Papst autorisiert zum vierten Kreuzzug aufrief. 1198 predigte er unter anderem in Lüttich und sprach vor allem die Armen an; die Begeisterung in der Bevölkerung war gewaltig. Sein Auftreten kann durchaus Nachwirkungen in die Zeit des Kinderkreuzzuges gehabt haben. Den Armutsgedanken verkörperte zu jener Zeit am stärksten Franziskus von Assisi. Gerade im Jahre 1212 unternahm er den ersten Versuch, mit einigen seiner pueri das Heilige Land zu erreichen, erlitt aber Schiffbruch an der Dalmatischen Küste.

Das Selbstverständnis der Kreuzfahrer von 1212 gründete durchaus auf der Armutsbewegung. Dem Franzosen Stephan soll ja Christus in der Gestalt eines armen Pilgers erschienen sein; die deutschen Teilnehmer waren mir leerem Beutel unterwegs und waren auf Almosen angewiesen. Sie waren überzeugt, die Auserwählten zu  sein, welche nun mit ihrer Tugend das erfüllen konnten, was den Reichen und Mächtigen nicht gelang: das Grab Christi von den Ungläubigen zu befreien.  Zum Zeichen der Auserwählung trugen sie das Kreuzzeichen in der Form eine griechischen Tau (t)[80], das ist das Zeichen, welches später die Franziskaner mit päpstlicher Erlaubnis tragen durften.

2.3.3 Die Prozessionen

Die Massen die sich in Frankreich und in den Rheinlanden versammelt hatten, waren also zusammengekommen, ohne von der Kirche aufgerufen worden zu sein. Im Gegenteil äussern sich die klerikalen Quellen oft feindlich. Der Zug scheint aber aus kirchlichen, volksreligiösen Ritualen hervorgegangen zu sein[81]. Jährlich wurden zwischen Ostern und Pfingsten Bussprozessionen unter der Leitung der Geistlichkeit durchgeführt. Zusätzlich rief Papst Innozenz III im Jahre 1212 zu Prozessionen zur Unterstützung des Spanischen Kreuzzuges auf. Diese Prozessionen schienen an einigen Orten der Kontrolle  der Kirche entglitten zu sein. Fecerunt pueri processiones[82]  , die pueri traten nun ohne Geistliche auf. Sie trugen zwar noch die kirchlichen Kultgegenstände mit sich (Fahnen, Kerzen, Kreuze und Weihrauchgefässe ) und sangen verschiedene Lieder :  "Domine Deus, redde nobis  veram Crucem!"[83] , "Ad Deum", "Versus Iherusalem, querere Terram sanctam"[84]  und andere Gesänge. Aus den Prozessionen ist ein enthusiastischer Zug Richtung Jerusalem entstanden. Mit wundertätigen Führern machten sie sich auf den Weg, um als Auserwählte das Kreuz Christi zu erretten.

2.4 Diffusi sunt et dispersi: das Ergebnis

Rekapitulieren wir: In Frankreich hat sich eine ansehnliche Schar pueri (30000?!) in der Ile-de-France zu Prozessionen versammelt, ob einige von ihnen sich auf einen Kreuzzug begaben, ist aus den Quellen nicht belegt. Gleichzeitig haben sich auch in den Rheinlanden pueri und andere Leute zusammengetan, mit der Absicht, ins Heilige Land zu gelangen. Der Zug bricht im Juli auf Richtung Süden. Die Spuren verlieren sich dann im Schwäbischen, vier Wochen später trifft eine Schar von einigen Tausend (7000?!) deutscher Pilgern in Piacenza ein. Falls dies der gleiche Zug ist, welcher am 25. Juli Speyer verlassen hat, so sind diese pueri in fieberhafter Eile (25-35 Kilometer pro Tag) über die Alpen gezogen. In gleicher Eile zieht die Schar weiter nach Genua (150 km in vier Tagen); am Samstag, den 25. August, treffen sie dort ein. Sie können weder mit Schiffen weiterreisen, noch werden sie in der Stadt aufgenommen und schon gar nicht teilte sich das Meer durch ein Wunder vor ihnen. Am Sonntag wird das letzte Mal von den Kreuzfahrern berichtet. Danach scheint sich der Zug aufgelöst zu haben, die Teilnehmer verstreuten sich, diffusi sunt et dispersi[85]. War es das schon gewesen, nach all dem grossen Halleluja?

Spekulationen in (deutschen) Quellen über die Weiterführung des Zuges nach Rom, Marseille, Brindisi, Pisa oder Venedig  sind an den entsprechenden Orten nicht belegt. Einige Teilnehmer scheinen in Italien geblieben zu sein, zum Teil als Knechte und Mägde. Wenige sollen noch im Herbst zurück über die Alpen gezogen sein. In ihrer Heimat seien sie mit Häme empfangen worden. "Diejenigen, die vormals in grossen Gruppen singend auszogen, kommen nun einsam und schweigend,  barfuss und hungrig zurück, verlacht von allen; einige der Mädchen vergewaltigt und geschwängert"[86].

Ein etwas trauriger Ausgang eines noch vor wenigen Monaten gefeierten und hoffnungsvollen Zuges junger Leute.

 

3. Derisoria expedicio puerorum: der Ausblick

Dieser lächerliche Zug der puerorum; man hat es ja so kommen sehen. Weder auf Eltern noch Geistliche noch andere Leute mit gesundem Menschenverstand wollte man hören. Das konnte ja nicht gut ausgehen, non bonum sortitur exitum. Solche und ähnliche Aussagen wie in den Marbacher Annalen machen stutzig. Sind das nicht altbekannte und auch heute immer wieder gehörte Sprüche, die Jugendliche zu hören bekommen, wenn sie das Unmögliche wagen?

Kann man diesen Kreuzzug vom 1212 mit aktuellen Jugendbewegungen vergleichen oder ist er eher Ausdruck eines religiösen Massenwahns?

Von den anderen angesprochenen Volkskreuzzügen mit religiösen Wahncharakter unterscheidet sich der Kinderkreuzzug wesentlich. Während im Kreuzzug vom 1096 Peter der Eremit und im Pastorenkreuzzug der ungarische Meister sich mit religiösen Hetzreden hervortaten und dadurch unkontrollierte Gewalttaten wie Judenpogrome und  Ermordung von Geistlichen hervorriefen, so hielten sich die Führer des Kinderkreuzzuges zurück. Die Bewegung scheint nicht von Führern ins Leben gerufen zu sein, sowohl Stephan wie Nikolaus wurden erst im Verlauf des Kreuzzuges als Anführer erwähnt.

3.1 Gewaltlosigkeit

Der Kinderkreuzzug zeichnet sich also im Gegensatz zu allen anderen Kreuzzügen durch seine Gewaltlosigkeit aus. Fahnen vor sich tragend und Lieder deklamierend zogen die Scharen über die Alpen: ein friedliches Bild. Jugendliche verschiedenen Geschlechtes dazu ältere Leute und Kinder friedlich vereint, genügsam und in vollem  Vertrauen auf Erfüllung ihrer idealistischen Vorstellungen.

Wenn 800 Jahre später eine viel grössere Menge junger Leute in einer ähnlichen Zusammensetzung sich von Deutschland und ganz Europa aus auf den Weg nach Genua macht, um mit friedlichen Mitteln gegen die Mächtigen dieser Welt zu demonstrieren (Treffen der G8 Ende Juli 2001 in Genua), so wird auch dieser Zug nur am Rande in die Annalen der Geschichte eingehen, wird aber von den Vertretern der Macht ähnlich herablassend und abschätzig beurteilt wie einst der Kinderkreuzzug.

3.2 Morgenlandsehnsucht

Ein anderes Bild zeitgenössischer Jugendbewegung eröffnet sich beim Anblick der singenden, gewaltlosen und friedfertigen pueri und puellae, die über die Alpen nach Italien ziehen, das Bild der Hippie-Bewegung aus den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts: Von einer tiefen Morgenlandsehnsucht getrieben, machen sich zehntausende von jungen Amerikanern und Europäer auf den Weg Richtung Indien. Keiner Obrigkeit verpflichtet, mit der Devise Frieden, Liebe, Gewaltlosigkeit, mit minimalen materiellen Ansprüchen ziehen sie aus, treffen sich an gewissen Knotenpunkten wie Istanbul oder Kabul. und wenn sie gefragt werden, wohin sie wollen, geben sie ähnliche Antworten wie die jungen Kreuzfahrer von 1212: "Ad Deum", nichts Geringeres als Erleuchtung erwartend.

3.3 Emigration

Ein weiteres Bild ist jenes einer landlosen, nicht erbberechtigten Jugend, die nichts zu verlieren hat und ihr Heil in der Emigration sieht. Sie ziehen in den sonnigen Süden, das Heilige Land vor Augen, erwarten eine neue Zukunft in den Kreuzfahrer-Staaten. In den aufblühenden Italienischen Städten haben sie vielleicht eine sich durchwegs lohnende Alternative zu ihrem ursprünglichen Ziel gefunden und das nicht nur in der Funktion von Knechten und Mägden.

3.4 Der kurze Sommer der Anarchie

Auch wenn sich die Wünsche und Erwartungen der Kreuzfahrer nicht erfüllt hatten, wenn einige enttäuscht zurück in ihre Heimat kehrten, sie hatten doch einiges für sich erreicht. Ein Ausbruch aus ihrer monotonen Welt der Landarbeiter, ein Ausbruch in die Freiheit, ein Ausbruch aus dem starren Ständesystem. Für einen kurzen Sommer hatten sie das Geschick selber in die Hände nehmen können. Mit gleichaltrigen und gleichgesinnten Leuten begaben sie sich auf Wanderschaft; hohe Ziele vor Augen, versuchten sie das Unmögliche.

3.5 Projektionen

So sind wir an einem ähnlichen Punkt angelangt, wo die Geschichtsschreibung über den Kinderkreuzzug schon immer war: bei Spekulationen und Projektionen. Bei der schmalen und oft einseitigen Quellenlage bleiben viele Fragen offen. Waren diese pueri jetzt wirklich keine Kinder? Soll man den Begriff "Kinderkreuzzug" ersetzen? Was war der eigentliche Auslöser der ganzen Bewegung? Wohin hat es all die Teilnehmer nach dem 25. August von Genua vertrieben? Wer sind ihre Nachkommen? Sind es jene Morgenlandfahrer, von denen Hermann Hesse schreibt? Sind es die jugendlichen Rebellen von heute? Dieses Ereignis ist immer noch "so wundersam, wie man es noch nie gehört hat". Vieles wird offen bleiben.

 

Ipso anno contigit res satis miranIda et ideo magis miranda, quia a seculo inaudit.



[1] Chronica Regia Coloniensis continuatio IIa. S. 190-191. "Ipso anno contigit res satis miranda et ideo magis miranda, quia a seculo inaudito."

[2] ROEDER, Corinna; Der Kinderkreuzzug von 1212 in Deutschland in der Sicht der Zeitgenossen, In: Geschichte in Köln 34, 1993, S. 5

[3] Wollschläger, Hans. - Die bewaffneten Wallfahrten gen Jerusalem : Geschichte der Kreuzzüge -Zürich : Diogenes-Verl., 1984, S. 189. Wollschläger setzt sich in seinem Werk durchwegs kritisch mit den Kreuzzügen auseinander.

[4] Die meisten der Textquellen sind im Anhang tabellarisch aufgelistet mit Hinweis auf Entstehungsort, -Zeit und (klösterlicher) Herkunft der Autoren.

[5] Jaspert, Nikolas. Die Kreuzzüge.

[6] GÄBLER, U.: Der Kinderkreuzzug vom Jahre 1212. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte. S. 10.

[7] Ann. Ian. Annales Ianuenses

[8] Verschiende Quellen weisen auf das Kreuzzeichen hin: Chronica Regia Coloniensis continuatio IIa, Chronicon Ebersheimense, Annales Marbacenses

[9] Zur Definition des Kreuzzugbegriffs siehe auch: MAYER, Hans Eberhard ; Geschichte der Kreuzzüge. S. 280. Wesentlich ist bei seiner Definition die Organisation durch den Papst und die Befreiung Jerusalems. Raedts definiert die Kreuzzüge als "all expeditions, armed or unarmed, whose participants took a vow and intended to liberate Jerusalem and the other holy places from Moslem rule or to defend them for Christendom." In RAEDTS, P.: The Children`s Crusade of 1212. S 301.

[10] Dass Innozenz III vom Kinderkreuzzug wusste, ist immerhin in einigen Quellen vermerkt: Annales S. Rudperti Salisburgensis, Annales Marbacenses, Annales Stadenses. Wenn auch ein Treffen einiger Kreuzfahrer mit dem Papst in Rom nicht verbürgt ist.

[11] "Die neuer Forschung tendiert - wenn auch durch die Terminologie der zeitgenössischen Quellen kaum gestützt - dazu, als Teilnehmer des Kinderkreuzzuges eher Arme und Randständige der mittelalterlichen ländlichen Gesellschaft anzunehmen". In: ARNOLD, K.: Kinderkreuzzug. In: Lexikon des Mittelalters:

[12] In zwei Quellen wird der Begriff puer nicht verwendet: Annales S. Rudperti Salisburgensis und Sicardi de Cremona Cronica.

[13] vgl.: Ariès, Philippe. - Geschichte der Kindheit. München, Shahar, Shulamith. - Kindheit im Mittelalter

[14] RÖHRICHT, R.: Der Kinderkreuzzug 1212. In: Historische Zeitschrift, 36 (1876),

[15] Alphandéry, Paul. La chrétienté et l'idée de croisade. S. 340 ff

[16] MICCOLI, G.: La Crociata dei Fanciulli del 1212. In: Studi Medievali, 2 (1961). S.  430

[17] GAEBLER, hier S. 10-11

[18] RAEDTS, hier S. 295-300. Die Untersuchung von Raedts aus dem Jahre 1977 scheint auf jede spätere Untersuchung entscheidenden Einfluss auszuüben. So wird seine Arbeit immer als wegweisend zitiert, obwohl seine radikale Deutung des puer-Begriffes oft auch in Frage gestellt wird.

[19] Willelmi chronica Andrensis, Albrici monachi Trium-Fontium Chronicon

[20] Chronica Regia Coloniensis continuatio IIa: "multa milia puerorum a 6 annis et supra usque ad virilem etatem" . Chronica Regia Coloniensis continuatio IIIa: "pueri diversae etatis".

[21] Annales Marbacenses: "pueri et puelle, non solum minores sed etiam adulti; nupte com virginibus".

[22] Annales Marbacenses: "Nec retineri poterant ullo modo a parentibus et amicis…"

[23] DUBY, G.; Les pauvres des campagnes dans l'occident médiéval jusqu'au XIIIe siècle.

[24] Vgl. MOORE, Robert Ian. - Die erste europäische Revolution : Gesellschaft und Kultur im Hochmittelalter und HAAS, Wolfdieter. - Welt im Wandel : das Hochmittelalter.

[25] Annales Marbacenses, Chronica Regia Coloniensis continuatio IIa.

[26] ROEDER, Corinna; Der Kinderkreuzzug von 1212 in Deutschland in der Sicht der Zeitgenossen; Siehe auch: CARDINI, F. ; La crociata dei fanciulli.

[27] MENZEL, Michael: Die Kinderkreuzzüge in geistes- und sozialgeschichtlicher Sicht. Hier S. 153-154.

[28] DICKSON, Gary:, Stephen of Cloyes, Philip Augustus, and the Children's Crusade. Hier S. 95; DICKSON, Gary: La Genese de la Croisade des Enfants.

[29] Einige Autoren wurden in dieser Arbeit kaum erwähnt wie etwa: DELALANDE, Jean: Les  extraordinaires  Croisades d`Enfants et de Pastoureaux au Moyen Âge. Les Pèlerinages d`Enfants au Mont Saint-Michel,.oder Runciman, Steven. - Geschichte der Kreuzzüge. Andere wurden auch nicht gesichtet. So etwa: De Jansen, ein Zeitgenosse von Röhricht, sowie die amerikanischen Mediävisten Munro, Hansbery und Zacour.

[30] Breve Chronicon Lirense: Nach RAEDTS der kürzeste Quelleneintrag.

[31] Vgl. RAEDTS; hier S.283-289. Siehe auch die tabellarische Auflistung der Quellen im Anhang.

[32] Chronica Regia Coloniensis continuatio IIa und IIIa.

[33] Annales Elwangenses, (Chronicon Ellwacense), Annales Neresheimenses, Annales maiores Zwifaltenses

 [34] Annales Scheftlarienses maiores.

[35] Annales Admuntenses, Annales S. Rudperti Salisburgensis.

[36] Sicardi de Cremona Cronica.

[37] Annales Placentini Guelfi.

[38] Annales Ianuenses.

[39] Alberti Milioli notarii Regini, Cronica imperatorum, Salimbene de Adam Cronica.

[40] Reineri Annales S. Jacobi Leodiensis, Annales Floreffienses.

[41] Annalium Rothomagensium Continuationes, Auctarium Mortui Maris, Chronicon anonymi Laudunensis.

[42] Annales Marbacenses, Albrici monachi Trium-Fontium Chronicon. Siehe Anhang 4.1.1. und 4.1.2

[43] Annales Spirenses, Chronicon Ebersheimense.

[44] RAEDTS: S. 289: "In short, of the fifty-one sources for the Children's Crusade, not including copies, twenty-one witch seem reasonably reliable will constitute the basis for our investigation."

[45] GÄBLER. S. 3-8.

[46] Als Vorlage für diese Darstellung diente Karte aus: Atlas of Medieval Europe, Ed. Agnus Mac Kay 1997. S. 121

[47] Vergleiche MENZEL S. 140-141 und Quellenverzeichnis im Anhang.

[48] Willelmi chronica Andrensis; Andres liegt in der Nähe von Dünkirchen.

[49] Albrici monachi Trium-Fontium Chronicon.

[50] Annales S. Rudperti Salisburgensis: "plurima hominum utriusque sexus et etatis multitudo…"

[51] siehe Anhang

[52] Chronica Regia Coloniensis continuatio IIa "multa milia puerrorum a 6 annis et supra usque ad virilem etatem". Chronica Regia Coloniensis continuatio IIIa "pueri diversae etatis".

[53] Annalium Rotomagensium.

[54] Chronicon Ebersheimense: "servulorum, ancillarum et virginum infinitus numerus".

[55] Reineri Annales: "motus puerorum …et pastorum tam masculini sexus quam feminini".

[56] Johannis Codagnelli Annales Placentini Guelfi.

[57] Chronica Regia Coloniensis continuatio IIIa.

[58] Reineri annales.

[59] Chronicon Ebersheimense: "sic per totam Alemanniam et Galliam servulorum...".

[60] Siehe Anhang 4.1.2 Chronica Albrici.

[61] DICKSON, Gary: La Genese de la Croisade des Enfants. S.59-63

[62] MAYER, Hans Eberhard ; Geschichte der Kreuzzüge: S. 189.

[63] Reineri Annales

[64] Siehe RAEDTS und DUBY wie oben..

[65] DICKSON, Gary:, Stephen of Cloyes. S. 95-96

[66] Chronica Regia IIa. Siehe auch Marbacher Annalen.

[67] Chronicon Eberheimense.

[68] Annales Spirenses

[69] Annales Marbacenses

[70] Chronica Regia IIIa

[71] vergleiche RAEDTS S.303 ff

[72] Sicardi de Cremona Cronica, Annales Placentini, Reineri Annales.

[73] Annales Scheftlarienses: "…iussu angelico adire debere..".

[74] Chronicon Ebersheimense: "...asserebat se posse sicco vestigo maris undas transvadere..."

[75] Chronica regia IIa.

[76] Annales marbacenses

[77] Siehe dazu und zum Folgenden: DICKSON, Gary: La Genese de la Croisade des Enfants S. 70 ff

[78] Reineri Annales

[79] Vgl. RAEDTS S. 307 ff.

[80] Gesta Treverorum: "...gestans super se signum quasi crucis, formam thau habentis…".

[81] Vgl. DICKSON, Gary: La Genese de la Croisade des Enfants. S. 82 ff.

[82] Siehe oben Anmerkung 31.

[83] Auctarium Mortui Maris.

[84] Chronica Ardensi, Annales Stadenses.

[85]  Annales Marbacenses

[86] Annales Marbacenses: "et qui prius gregatim et per turmas suas et numquam sine cantu celeumatis transire solebant per terras, modo singillatim et in silentio, nudipedes et famelici redeuntes facti sunt omnibus in derisum, quia plurime virgines rapte et florem pudicicie sue amiserunt."